Iron Curtain Trail - eine Zwischenbilanz

 

Das Unwort des Jahres. Die Wahl steht wieder bevor. Vermutlich sind sich meine Freunde sofort einig, welches Wort nominiert werden soll: Iron Curtain Trail. Seit Monaten liege ich ihnen mit damit in den Ohren. Nicht nur das. Auch als Reisegefährten gab es Auserwählte. Für besonders abenteuerliche und anstrengende Etappen wohlgemerkt.

 

Was hat es mit dieser Bezeichnung bloß auf sich? Woher die Faszination? Woher die Motivation?

 

Diese Frage stelle ich mir selbst des Öfteren. Zuletzt als ich schnaufend und schwitzend, keuchend und leise vor mich hin fluchend mein Fahrrad aus Hardegg hinausschiebe. Die 10% Steigung hinauf. „Der Berg ist dein Freund“ wird ersetzt durch „Wer das Abenteuer liebt, schiebt!“ oder „Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo noch eine Steigung daher.“

 

Japs. Keuch. Mein Kopf ist leer gefegt. Kein Platz für Gedanken. Atmen. Schieben. Atmen. Treten. Und dann. Irgendwann. Juhuu!! Geschafft! Endlich! Der Puls rast, der Kopf ist leer, die Füße qualmen. Irgendwann tauchen sie auf. Verschiedene Antworten auf die unausgesprochene Frage: Warum bloß tu ich mir das an?

 

Zuerst tauchen Wörter auf: Abenteuer. Wildnis. Niemandsland. Europas Geschichte. Heimat. Dann formen sie sich zu Antworten.

 

Erstens Spurensuche: Der Iron Curtain Trail überquert immer wieder die Grenze zwischen Österreich und der Tschechei. Ich fahre in ein Gebiet, das vor 100 Jahren noch deutschsprachig war. Meine Großmutter war eine dieser Deutschsprachigen, die in der Nähe von Landstein lebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie ausgesiedelt, flüchtete ins Waldviertel, fand Zuflucht zuerst in Litschau dann in Haslau. Die Aussiedelung der Sudetendeutschen ist Teil meiner Familiengeschichte. Alle Bewohner des Niemandslandes wurden ausgesiedelt und ihre Gemeinden und Einzelhöfe dem Erdboden gleich gemacht. Das „Niemandsland“ galt als Verbotszone. Ich tauche ein in die fast vergessene Geschichte Europas. Immer wieder stehe ich vor Ruinen, überwucherten Plätzen, Gedenktafeln.

 

Zweitens Wildnis: Niederösterreich hat mit 408 km Anteil am grünen Band, einem Korridor der sich durch ganz Europa zieht, einem einzigartigen Refugium, einer Besonderheit für den Naturschutz. Eine Naturlandschaft, die wegen der ehemaligen Sperrzonen nahezu unberührt geblieben ist, ein Lebensraum für unzählige Tier- und Pflanzenarten. Schutzgebiete wie Ceska Kanada oder der Nationalpark Thayatal laden auf einen Besuch ein. Eine Infotafel im tschechischen Teil des Nationalparks informiert:

 

„Die staatliche Flächenzusammenlegung der Landwirtschaft nach 1948 degradierte das tschechische Land zur reinen Produktionsfläche, aus der Raine und hundertjährige Bäume entfernt wurden. Genauso wurden die Seelen der Dorfbewohner beschädigt und zu einem Leben in einem Gelände ohne alte Wege am Rande von riesigen Feldern verurteilt.“ Im Nationalpark fällt es mir schwer diesen Worten glauben zu schenken. Ich dringe ein in unberührte Wälder, in Wildnis. Langsam. Lautlos. Naturnahe. Kaum verlasse ich den geschützten Raum, blicke ich auf ödes Ackerland. Bis zum Horizont. Erde. Staub. Verlassene Bunker.  Ein trauriger Anblick.

 

Drittens Abenteuer. Es macht Spaß! Es ist Anstrengung, Herausforderung und Abenteuer zugleich. Bei jeder Etappe spüre ich, wie das Blut durch meine Adern schießt, wie mein Herz schneller schlägt, wie die Muskulatur arbeitet, wie ich kräftiger und ausdauernder werde, wie Geist und Körper ein Team werden, sich aufeinander abstimmen.

 

Es gibt Abenteurer wie Auke van der Weide, die überzeugt sind, dass der Geist folgt, wenn der Körper kräftig und fit ist und Wanderer, wie Christine Stürmer, die sagen, dass der Körper folgt, wenn der Geist stark ist. Ich bin für Teamwork.

 

10.400 km lenght, 20 countries visites, 14 unesco cultural sides, 3 european seas. Der Euro Velo 13.

 

 

Zugegeben, es ist ein umfangreiches Projekt.

Nun, ich nehme mir dafür einfach Zeit.

Und noch etwas, ich beginne in der Mitte, im Herzen Europas, im Waldviertel.

 

„Vor mehr als zwei Jahren habe ich meinen Job und meine Wohnung gekündigt. Ich wollte mindestens ein Jahr auf Weltreise gehen und danach in Ruhe entscheiden können, wie es weitergeht. Zudem hatte ich mir einen VW Camper zugelegt, der sowohl als Reisemittel als auch eventuelle als Unterkunft dienen würde.“, schreibt Ute Kranz in ihrem Blog Bravebird.

 

„Eine wichtige Entscheidung. Während meiner langen Reise stelle sich überraschend heraus, dass ich für das permanente Unterwegssein nicht geschaffen bin. Es birgt zuviel Unruhe. Das Reisen wird mehr und mehr zur Gewohnheit. Hinzu kommt, dass die Eindrücke einer Weltreise verarbeitet werden wollen, für die es bestenfalls eines räumlichen Stillstands bedarf.“

 

Als ich den Iron Curtain gerade Iron Curtain sein lasse und auf der Julienhöhe bei Drosendorf sitze, um den Ausblick zu genießen, stolpere ich über diesen Blog, lasse den Stillstand zu.

 

Auch ich liebe das in Bewegung sein und ich genieße den Stillstand, die Ruhe, die Momente die ewig andauern können. Wie hier in Drosendorf. Wie dort an den vielen anderen Orten, die ich dieses Jahr besucht habe.

 

Iron Curtain Trail, für mich das Wort des Jahres. Etappe um Etappe ist er Herausforderung und Abenteuer. Eintauchen in das Gedächtnis Europas. Gelegenheit durch wilde Natur zu radeln. Ein Projekt um Mut, Ausdauer und Kraft unter Beweis zu stellen und um die Seele atmen zu lassen.