Ein Spiel mit den Wellen, Dschungeltraining und andere Ablenkungen

 

Der grüne, regenintensive und unbeständige Sommer verlangt der Durchführung meiner Tagestrips viel Spontaneität ab. Ein Blick in den Himmel am Morgen, zu Mittag, am Nachmittag und natürlich zwischendurch ist ein „MUSS“.

 

Heute zum Beispiel. Ich blicke in den Himmel. Graue Wolken, aufgelockert durch ein wenig Blau präsentieren einen sanften Nieselregen. Das kühle Nass kann mich nicht davon abhalten, mein Fahrrad am Clip on zu befestigen. Im Gegenteil. „In Krems ist es sicher trocken!“, sage ich bestimmend zu mir und werfe dabei dem Wettergott einen vernichtenden Blick zu.

 

Unterwegs. Danke an alle Baustellen und Umleitungen für die Erhöhung meiner Ortskenntnisse. Mit einer halben Stunde Verspätung komme ich im Wellenspiel an. Die Tischreservierung ist noch aufrecht. Immerhin. Ich lasse mir den Tisch zeigen, nehme Platz und wähle aus der Frühstückskarte das Energie Angebot, bestelle noch einen Verlängerten und nippe sogleich an einem frisch gepressten Orangensaft. Dabei beobachte ich Menschen in Daunenjacken, Frauen mit Trägershirts und in Ultra Miniröcken. Brrr! Ich stelle den Kragen meiner Fleecejacke auf.

 

Meine Frühstückspartnerin hat mir abgesagt, der Tag gehört somit mir allein. Das NÖ Card Ausflugsheft informiert mich über die Abfahrtszeiten der Wachau Bahn. Wie viele Kilometer sind es bis zur Endstation Emmersdorf? Ok, einige. Was liegt auf dem Weg? Dürnstein. Spitz. Aggsbach Markt. Hm, da gibt es sicher Zusteigmöglichkeiten. Ich radle nachher einfach mal los.

 

Kurz noch ein paar Worte mit Edith gewechselt, die mich vom AVIVA wieder erkennt. Sie erzählt mir die tragischen Neuigkeiten. Waassss? Werner, nicht mehr am Leben??? Ich bin schockiert. Erschüttert. Verstehe die Welt nicht mehr.

 

Eigene Zwistigkeiten mit dem Leben erscheinen sofort unwichtig. Mein Herz schlägt, ich atme, alles andere unterliegt dem Auf und Ab des Lebens.

 

Ich unterhalte mich noch ein wenig mit Edith und wünsche ihr eine schöne Zeit. Meine Beine frohlocken und freuen sich auf die Pedale unter den Füßen. Los geht`s!

 

Kurze Zeit später radle ich entlang des Donauradwegs, EuroVelo6, werde meiner geliebten 13 Route für eine Weile untreu. Was soll`s? Für die Wachau ist das Radl perfekt. Die Donau in Sichtweite, Weinreben rechts und links des Weges, Zwetschken und Kriecherl auf Pflückhöhe. Ich holpere am Kopfsteinpflaster durch Dürnstein, Spitz und andere bekannte Orte des Weltkulturerbes Wachau. Mir begegnen E-Biker, Rennradfahrer, Mountainbiker und Tandemfahrer.

 

Die Erinnerung an den Iron Curtain zwischen Phyrabruck und Ceske Velenice wird für einen Moment lebendig. Schotter. Matsch. Schmale Wege. Äste auf Augenhöhe, die bereit sind, mich vom Rad zu fegen. Brennnessel und Brombeeren, die mir die Beine verbrennen und zerstechen und als Highlight: eine riesige Wasser- und Matschlacke. Mit einem lauten WAHHH springe ich vom Fahrrad ab. Die tschechischen Mitstreiter des Trails kommentieren mit einem Wort: „Jungle!“

 „Yes, it is“, stimme ich keuchend zu.

 

Der Weg ist, wo die Angst ist.

 

Diesen neunmalklugen Spruch spuckt mir Facebook entgegen, am Bankerl in Aggsbach sitzend, schaue ich kurz ins Netz, blättere ich in meiner Diplomarbeit und sinniere ein klein wenig übers Leben. Irgendwelche abenteuerlichen 10.000km langen Radtouren bestreiten. Kein Problem für mich. Einen Job suchen, Klienten gewinnen, Kooperationspartner anwerben und mich im Arbeitsleben behaupten und ich kriege es mit der Angst zu tun, werde zum Feigling, zum Drückeberger, bin für jede Ablenkung dankbar.

 

„Oft haben wir uns so an unsere Denk- und Sichtweisen gewöhnt, dass wir nicht auf die Idee kommen, dass wir noch anders wahrnehmen können und dadurch anders handeln und andere Resultate erzielt werden“, klärt mich meine Diplomarbeit auf. Eigentlich für Klienten gedacht, bin ich froh, sie gerade für mein eigenes Leben parat zu haben.

 

Dr. Sibylle Tobler beschreibt in einem Artikel für Psychologie Heute Compact, die Phasen des Loslassens:

 

Erkennen, was es loszulassen gibt

Wissen, wofür es sich lohnt, diesen mutigen Schritt zu wagen

Vertrauen aufbauen, dass dieser Schritt erfolgreich sein wird

 

Im ersten Schritt, erkennen, was es loszulassen gibt, verweist Sie auf die Wichtigkeit, sich Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen und Klarheit zu gewinnen, welche Veränderung ansteht. Hier ist erforderlich, sich etwaige Unzufriedenheit, Unglücklichsein, innere Leere oder Erschöpfung einzugestehen und bewusst zu machen, an welchen hinderlichen Situationen oder Gewohnheiten festgehalten wird.

 

Der zweite Schritt setzt voraus, den Mut und die Entschlossenheit aufzubringen, um Perspektiven zu entwickeln, die es sinnvoll machen, vorwärts zu gehen. Hierbei geht es um die Entwicklung eines „motivierenden Horizonts“, ein Erkunden der möglichen zukünftigen Szenarien, die einen Anreiz liefern, sich von dem was unglücklich macht zu verabschieden. Die Autorin erklärt, dass es Menschen oft schwer fällt, sich mit dem zu beschäftigen, was im Innersten vor sich geht, wo ihre Talente liegen und wie sie diese einsetzen können oder sie stecken bereits in einem Lebensentwurf, in dem sie Kompromisse eingehen mussten und den Kontakt zu sich selbst verloren haben. Genauso kann es passieren, dass die Eigenverantwortung und Risikofreudigkeit fehlt. Es existiert keine Risikogarantie und womöglich sind Schritte zu wagen, die vorher noch nie gemacht wurden und worauf das Umfeld mit Unverständnis und Neid reagieren kann.

 

Deswegen wird die Notwendigkeit Vertrauen aufzubauen hervorgehoben. Vertrauen wächst ihrer Ansicht nach aus Offenheit für das, was unterwegs geschieht, einer förderlichen Wahrnehmungsweise, welche dadurch gekennzeichnet ist, dass die Aufmerksamkeit auf das gelegt wird, was vorwärts führt. Einen weiteren Schritt sieht sie im selbstverantwortlichen Handeln in Richtung des motivierenden Horizonts. Es wird immer wieder geklärt, was als nächstes zu tun ist, mit der Absicht, den Verlauf der Dinge zu beeinflussen.

 

Motivierender Horizont? Soso? Wie ist es damit? Einfach zu leben, als Motivation? Wie beim Radfahren. Aufsteigen, Gleichgewicht halten, lenken, in die Pedale treten. Einfach. Leicht. Machbar.

 

A ja, in die Pedale treten. Auf geht’s, der Zug wartet nicht auf mich.

 

Zurück in Krems besuche ich noch das Karikaturmuseum. Bereits im ersten Raum merke ich, diese Art von Kunst ist nicht mein Ding. Unter Humor verstehe ich etwas anderes. Schnell bin ich wieder draußen, blättere im Vorbeigehen noch in einem Schimpfwortlexikon auf Österreichisch, herzhaftes Lachen inklusive, danke Humor, dachte schon, der regenreiche Sommer hätte dich weggeschwemmt.

 

 

Anmerkungen: Das Wellenspiel vereint Restaurant, Cafe und Lounge und ermöglicht Urlaubsfeeling direkt an der Donau. Frühstücksangebote gibt’s von 8 bis 11 Uhr. Reservierung unbedingt empfohlen.

 

Die Wachaubahn verbindet Krems mit Emmersdorf. Der Fahrradtransport ist gratis. Mit der NÖ Card kann eine Gratis-Fahrt eingelöst werden.