Stacheldraht, grüne Bänder und Frauen Stärke

 

Ein sanfter Fahrtwind streift mir über die Nase, die Haare wehen, zwei Räder drehen sich und die Reifen hinterlassen Spuren im Waldboden. Mit einer FS (Frauen Stärke) trete ich in die Pedale, bin ich unterwegs entlang des Iron Curtain Trails oder EuroVelo13. Vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer – Europas Radweg Eiserner Vorhang – legt eine imposante Strecke zurück. Iron Curtain? Eiserner Vorhang?

 

Lücken tun sich in meiner Allgemeinbildung auf. In den Schubladen im Gehirn suche ich nach Erinnerungen aus dem Geschichtsunterricht. Es will mir nichts Genaues einfallen. Ich nehme das www zur Hilfe.

 

Von der Barentsee an der norwegisch-russischen Grenze bis zum Schwarzen Meer senkte sich unter Rasseln, Knarren und Kreischen nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf einer Länge von fast 7.000 km ein Eiserner Vorhang auf Europa herab. Dahinter lagen die Hauptstädte der alten Staaten. Warschau. Berlin. Prag. Budapest.

 

Minenfelder, Stacheldraht und Selbstschussanlagen trennten den Kontinent, spalteten Europa in Ost und West. Heute erinnern Mahnmale, Museen und Freilufteinrichtungen entlang des Radwegs an die Zeit der feindlichen Blöcke, an den Kalten Krieg. Jetzt kann Geschichte, Kultur und Politik auf sanfte Art „erfahren“ werden. Durch zahlreiche Nationalparks und eine Vielzahl einzigartiger Zonen verläuft die Strecke.

 

Grenzen trennen. Natur verbindet. Ein Korridor – ein Grünes Band – das Europa durchzieht. Naturlandschaften, die wegen der ehemaligen Sperrzonen nahezu unberührt geblieben sind.

 

Schauplatzwechsel. Dicke Schneeflocken landen auf meiner Wollmütze, ich ziehe sie tiefer ins Gesicht, stehe vor einer Informationstafel, befinde mich auf dem Weg zum Mandelstein, einer Erhebung an der niederösterreichisch-tschechischen Grenze. Ich bibbere und fröstle. Ende April noch Schneegestöber. „Verrücktes Wetter“, schimpfe ich.

 

European Green Belt. „Vom Todesstreifen zur Lebenslinie“, lese ich.  Das Projekt Grünes Band, koordiniert von der Weltnaturschutzorganisation IUCN, versucht ein möglichst zusammenhängendes Biotopverbundsystem entlang der ehemaligen Grenzen zu erhalten. Der Eiserne Vorhang hat Ost- und Westeuropa fast 40 Jahre lang getrennt und Kontakte zwischen Menschen auf beiden Seiten unterbunden. Die Natur ergriff Besitz, ein grünes Band entstand, in dem zahlreiche Tier- und Pflanzenarten ein Refugium zum Überleben fanden.

 

Iron Curtain Trail und European Green Belt. Zwei Projekte, eine Geschichte, ein Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses Europas.

 

Hineingeboren in eine Zeit des Friedens, in ein Europa der offenen Grenzen habe ich keinen blassen Schimmer von Stacheldraht, Minenfeldern und echter Lebensgefahr. Zum Glück.

 

Ich erinnere mich an ein Zitat: „Der Krieg ist wie die Liebe, er findet immer einen Weg.“ Dieser Wortlaut wird Bertold Brecht zugeschrieben. Er misst der Gewalt des Krieges die gleiche triebhafte und unkontrollierbare Urkraft wie der Liebe zu.

 

Zwischen dem Truppenübungsplatz Allentsteig und dem grünen Band liegt meine Heimat. Am TÜPL Panzer, Kanonenfeuer, Militäraufgebot. Am grünen Band Artenvielfalt, naturbelassene Landschaften, Radwege.

 

Friede in Europa? In Österreich? Im Waldviertel? 

 

Carl Gustav Jung soll kurz nach dem zweiten Weltkrieg folgende Überlegung geteilt haben: „ Wir (Schweizer) kamen zu dem Schluss, dass es besser ist auswärtige Kriege zu vermeiden, und so zogen wir nach Hause und nahmen den Hader mit uns. In der Schweiz haben wir die „vollkommene Demokratie“ aufgebaut, wo unsere kriegerischen Instinkte sich in der Form häuslicher Zwistigkeiten verausgaben können. Wir streiten innerhalb der Grenzen. Wir sind weit davon entfernt, untereinander Frieden zu haben: im Gegenteil, wir hassen und bekämpfen einander, weil es uns gelungen ist, den Krieg nach innen zu wenden.“

 

Und so radle ich vorbei an Zeitzeugen, Mahnmahlen und Naturschutzgebieten...

 

 

Anmerkungen:

 

Auf der offiziellen Homepage des Iron Curtain Trails findest du weitere Informationen. Seit April 2014 ist die Route im Waldviertel beschildert. Auf der Homepage des Waldviertel Tourismus findest du eine genaue Beschreibung des Radwegs. Bis 2020 soll sie gesamte Strecke fertig ausgebaut sein.

 

Mit dem Slogan Grenzen trennen, Natur verbindet hat der Naturschutzbund ein Prospekt über das Grüne Band erstellt. Hier erfährst du mehr.