Tausche acht Stunden Büro gegen Tag am Meer

Der simulierte Sonnenaufgang durch den Lichtwecker erfolgt um sechs Uhr früh. Die Überwindung, das kuschelig warme Bett zu verlassen, dauert etwa zehn Minuten. Danach stehe ich auf, gehe ins Badezimmer, wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser, spüre die erfrischende Wirkung, kämme meine Haare, ziehe mir bequeme Kleidung über, setze ein begeistertes, neutrales oder unmotiviertes Gesicht auf, schnappe die Autoschlüssel, nehme Platz in meinen Peugeot 206, starte den Motor, erinnere mich kurz an meine To Do Listen und mache mich auf direkten Weg in die Firma. So beginnt zehn Jahre lang meine Woche.

 

Dann…. Kündigung! Ich gestehe. Nicht ganz unerwartet und doch eine gewaltige Erschütterung meiner geordneten und sicheren Welt. Zuerst fließen Tränen, noch im Büro, dann meldet sich die Wut und zuletzt schaut die Akzeptanz vorbei und bringt ihre Freundin die Zuversicht gleich mit. Immerhin, noch drei Monate Kündigungsfrist vor mir. Alles halb so schlimm.

 

Schnell sind sie vergangen, die drei Monate, ohne mir großartig Gedanken über das „was nun?“ zu machen. Ich entscheide zwei Dinge. Erstens: eine Lücke im Lebenslauf samt Arbeitslosengeld-Bezug kann ich gut verantworten und zweitens, ich habe nun endlich Zeit ein Fotobuch mit meinen Lieblingssprüchen und Textpassagen, welche ich schon lange Zeit zusammentrage, zu gestalten. Mag für dich vielleicht unspektakulär klingen, für mich ist dieses Buch der Beginn der Posiegrafie und dieser Freiraum, der auf die Kündigung folgt, der Beginn meiner Liebe zu einem einfachen Leben.

 

Im Sommer desselben Jahres lande ich in Sardinien, besser gesagt, ich fahre mit meinem blitzblauen Peugeot 206 von Bord der Moby. Bin müde, aber gutgelaunt und fröhlich, lasse das Autofenster runter, atme die frische Meeresluft und blicke zuversichtlich auf die kommende Zeit. Ich habe ein Ziel, das Agriturismo Desole bei Su Canale und ansonsten keine Ahnung was mich dort erwartet. Ich habe an Vinicio und Elisabetta eine Mail geschickt und meine zwei helfenden Hände angeboten, gegen Kost und Logis. Alles andere, ich werde sehen.

 

Was folgt ist eine arbeitsreiche und zugleich ruhige Zeit meines Lebens. Ich habe ein Dach über dem Kopf, eine eigene Veranda zum Verweilen, einen wunderschönen Ausblick ins Landesinnere, kann dem Maestro Vinicio beim Kochen der landestypischen Gerichte über die Schultern schauen, lerne spielerisch leicht einige Brocken Italienisch, schlemme täglich frische Tomaten, Melanzani, Zucchini und Melonen aus dem Garten, dazu gibt es selbst gepresstes Olivenöl und Rotwein aus eigener Produktion, ich führe tiefgründige Gespräche, lache über die Besonderheiten der Sarden und zwischen der Mithilfe bei la colazione und la cena habe ich Gelegenheit ans Meer zu fahren, meine Seele baumeln und mein Herz ruhen zu lassen, barfuss durch den Sand zu laufen, die Weite in meinem Herzen und die Sonne in meinem Gesicht zu spüren. Beobachte, schwimme und beginne mich mit der Einsamkeit abseits von Familie, Dorf, ja sogar Landsleuten anzufreunden.

 

Kennst du diese Glücksmomente? Die Freude, über eine durchgetanzte Nacht, die Aufregung, wenn du einen geliebten Menschen nach langer Zeit wieder begegnest, die Begeisterung, für einen besonderen Ort, ein aufmunterndes Wort, das die leere Stelle in deinem Herzen füllt. Das Leuchten in deinen Augen, das Gefühl, die gesamte Welt umarmen zu wollen. Diese Zeiten, wo alles andere unwichtig ist. Diese Glücksmomente, die den Reichtum der Seele vergrößern. Und wie!

 

Heute kann ich sagen, dass ich zu dieser Zeit mein sicheres Leben verabschiedet habe. Ich habe eine Tür geschlossen und eine andere geöffnet. Ein Land verlassen, ein anderes besucht und was für eines. Seit diesem bis dato längsten Aufenthalt in Sardinien begleitet mich eine machtvolle Botschaft: „Manuela, let your heart rest for a while!"

 

Meine Tage in Sardinien waren gezählt, die Touristen kehrten aufs Festland zurück, der Strand wurde leer, im Agriturismo wurde es still, mein Rückfahrtticket war gebucht. Ich wusste es, doch ich wollte mich gegen den Lauf der Dinge stellen, wollte bewahren, festhalten. Glücksmomente, sandige Füße und Sorglosigkeit weiter genießen.

 

Heute akzeptiere ich: Auch die schönste Zeit geht vorbei. Sobald etwas seinen Höhenpunkt erreicht hat, ist es zum Niedergang bestimmt. So will es das Gesetz der Natur, so verlangt es die universelle Ordnung. Etwas vergeht und etwas anderes entsteht. Diese Lebenslektion habe ich gemacht und die Wahrheit hinter diesen Worten mit meinem Herzen liebevoll umarmt. Mehrfach. Und noch ist kein Ende in Sicht. Let your heart rest for a while. Die Glücksmomente vergehen, während die Erinnerungen bestehen.

 

Damals in Sardinien hat sich mein Wille gegen den Abschied gestellt und gewonnen. Mein letzter Tag war vollgestopft mit Aktivität und ich vergass ihn zu genießen, mich zu bedanken, sanft loszulassen und mich auf die Rückkehr zu freuen.

 

Wenn ein Mensch wie ich, mit seiner gesamten Aufmerksamkeit, seinem Herz und seinen Sinnen an einem Ort, einem Projekt oder bei geliebten Menschen verweilt, ist es wichtig, loszulassen und zu verabschieden, Abstand zu gewinnen und auszuruhen. Auch schöne Momente machen müde. Meine Seele braucht Zeit. Gelegenheit, sich zu sammeln, Kraft zu schöpfen und sich auszurichten, um weiterhin durch meine Intelligenz und mein Herz zu wirken. Immer wieder!!! Ob schöne oder schwierige Zeiten vorausgegangen sind, macht keinen Unterschied. Ich lasse mein Herz ruhen und die Vergänglichkeit ihre Arbeit tun.

 

Let your heart rest for a while. Du bist gerade Teil meiner Erinnerung. Die Erinnerung an eine genussreiche und unvergleichliche Zeit, an la doce vita.