Segelschuhe, Illusionen und das Glück erwachsen zu sein

 

Harold war erleichtert, als er wieder die Landstraße unter den Füßen spürte. In der Stadt waren Harolds Gedanken versiegt, doch in der offenen unbesiedelten Landschaft flossen die Bilder wieder ungehindert. Das Laufen befreite die Vergangenheit, der er 20 Jahre lang aus dem Weg gegangen war. Er maß die Entfernung nicht mehr in Kilometer, sondern in Erinnerungen.

 

Harold als Teenager. Er steht an der Türschwelle, sieht seine Mutter für immer fortgehen. Mit den Worten „Wünsch mir Glück“ verabschiedete sie sich. Er riecht wieder ihr Parfum, sieht den Puder auf ihrer Haut.

 

Er erinnerte sich, wie sein Vater, an dem Tag als seine Mutter gegangen war, hartnäckig auf die Haustür starrt. „Sie kommt zurück“, flüstert er.

 

Und er kann das Bild seines Vaters nicht abschütteln. Das Bild, als er auf dem Küchenstuhl zusammengesackt auf die Rückkehr seiner Mutter wartet. Stunde um Stunde.

 

„Lieber Sohn“, lautete ihr einziger Brief. „Neuseeland ist wunderbar. Ich musste weg. Mutter sein war nichts für mich. Sag Deinem Dad viele Grüße von mir.“

 

 „Kind zu sein wird oft verstanden, als unbeschwert, spielerisch und spontan ein Leben ganz im Jetzt zu führen, voller Entdeckerfreude, Abenteuerlust und erfrischender Sorglosigkeit. Und Gott sei Dank gibt es solche glücklichen Kinder tatsächlich.“ Mit diesen Worten führt Albrecht Mahr den Leser in sein Buch ein. „Von der Illusion einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück erwachsen zu sein“ lautet der Titel.

 

Für Harold, dem pilgernden Pensionisten, gab es in seiner Kindheit gewisse Glückseinschränkungen.

 

Albrecht Mahr erklärt. Verlässt eine Mutter ihr Kind, kann diese Handlung beim Kind das Gefühl auslösen, dafür verantwortlich zu sein, denn die Möglichkeiten des kindlichen Bewusstseins sind von Natur aus begrenzt und bringen ein Kind dazu, vieles auf sich zu beziehen. Die als glücklich und unbeschwert idealisierte Kindheit ist für zahlreiche Kinder oft alles andere als nur schön, sondern von Furcht, Unsicherheit und Verwirrung geprägt.

 

Mit 65 Jahren macht sich Harold auf den Weg. Was mit dem Spaziergang zum nächsten Briefkasten beginnt, wird zu einer Wanderung quer durch England und einer Reise zu sich selbst. Er wird verfolgt von Erinnerungen, sein Körper schmerzt, er schöpft wieder neuen Mut. Zwei Segelschuhe an den Füßen, eine Plastiktüte in der Hand, läuft er quer durchs Land.

 

Harold ist Vater, Ehemann, Nachbar, Freund.

 

„Das Erwachsensein genießt nicht immer einen guten Ruf. Es ist die Rede von Leistungs- und Verantwortungsdruck, Stress, Verlust von Spontaneität und Kreativität, von Erstarrung in Traditionen oder von quälender Sinnleere.

 

Das Glück des Erwachsenseins besteht zu einem Gutteil darin, sich gerne nach innen zu wenden und die eigenen Gefühle und Gedanken zu erkunden,“ lese ich in Dr. Albrecht Mahrs Buch.

 

Meter für Meter. Schritt für Schritt. Moment für Moment, widmet sich Harold nun dieser Aufgabe. Erinnerung um Erinnerung. Jahrzehnte verschütteter Gefühle und Gedanken.

 

„Ewiges Jetzt“ nennt Albrecht Mahr, die zur andauernden Gegenwart geronnenen leidvollen vergangenen Erfahrungen. Dabei haben wir Menschen die Möglichkeit, die alten Bilder zurücktreten zu lassen und abzulegen.

 

Von der Kunst, sich gut zu erinnern und gut zu vergessen ist die Rede.

 

Ich schenke Dr. Albrecht Mahr mein Vertrauen in seine Worte, meine Neugierde, beginne manches zu glauben, manches kritisch zu untersuchen. Lese von freundlichen Toten, von sauren Trauben, von der Sehnsucht eines guten Lebens. Ich profitiere von seinen wertvollen Einsichten aus 25jähriger Praxis in Systemaufstellungen.

 

Ich begleite Harold auf seiner unwahrscheinlichen Pilgerreise. Die Einfachheit der Geschichte lässt mich zuhören, lässt eigene Erinnerungen wach werden, motiviert mich, abzubrechen und manches neu zu beginnen.

 

Ein kluges Fachbuch, eine ungewöhnliche Wanderung, Menschen die begonnen haben, ihr Bewusstsein aus der Enge und Gefangenschaft kindlicher Vorstellungen herauszuführen.

 

Anmerkungen: Vom Glück erwachsen zu sein, davon handelt das Buch von Dr. Albrecht Mahr, erschienen im Scorpio Verlang. Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry, geschrieben von Rachel Joyce ist als Argon Hörbuch erhältlich und wird gelesen von Heikko Deutschmann.